Genealogien des Desinfektions- und Hygienediskurses

Der Artikel behandelt die historischen Wurzeln des seit dem 19. Jahrhundert eröffneten Desinfektions- und Hygienediskurses und führt ihn auf die über vierhundertjährigen traumatischen Erfahrungen mit dem Massensterben infolge von Wetterextremen (Kleine Eiszeit), Hungerkrisen und Pestausbrüchen zurüc...

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Main Author: Bergmann, Anna 1953- (Author)
Format: Electronic Article
Language:German
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Published: Universität Graz 2022
In: Limina
Year: 2022, Volume: 5, Issue: 1, Pages: 17-52
Further subjects:B volksmedizinische Praktiken der Pockenimpfung
B Corona-Diskurs
B Impfstoffentwicklungen
B kollektive Todesangst
B Quarantine
B Antisemitism
B ‚Homo Hygienicus‘
B Antigypsyism
B magische Reinigungsrituale
B der ‚gezähmte‘ und der ‚verwilderte Tod‘
B Pestpolitik
B Disinfektionsparadigma der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik
B ‚Fortpflanzungs‘- und Rassenhygiene
Online Access: Volltext (kostenfrei)
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Summary:Der Artikel behandelt die historischen Wurzeln des seit dem 19. Jahrhundert eröffneten Desinfektions- und Hygienediskurses und führt ihn auf die über vierhundertjährigen traumatischen Erfahrungen mit dem Massensterben infolge von Wetterextremen (Kleine Eiszeit), Hungerkrisen und Pestausbrüchen zurück. Die zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert in Europa praktizierte Seuchenpolitik war von einem Doppelaspekt gekennzeichnet: Zum einen erfüllten Maßnahmen zur strikten Abschottung von Pestkranken sowie zum Verscharren der Toten in Massengräbern eine soziale Stabilisierungsfunktion. Die Pestreglements reduzierten kollektive Ängste, zumal sie immer mehr den Seuchenverdacht auf gesellschaftlich geächtete Randgruppen lenkten (jüdische Bevölkerung, Sinti, Roma, Arme) und deren unheilvolle Verfolgung als Schutz vor der Pest instruierten. Zum anderen sprengte die Isolationspolitik das soziale Leben und erzeugte zusätzliche Leiderfahrungen. Die "Angst im Abendland" (Jean Delumeau) und damit einhergehende transgenerationelle Traumata verankerten sich im kulturellen Gedächtnis der europäischen Bevölkerung. Der über Jahrhunderte hinweg geführte Kampf gegen den (Seuchen-)Tod sowie neuartige Bewältigungsstrategien zur Eindämmung von Todesangst bildeten wesentliche Säulen in der Entstehung der Moderne und mündeten in dem Ideal des "Homo Hygienicus" (Alfons Labisch). Auch gingen die vormodernen Reinigungsrituale gegen die Pest in die naturwissenschaftlich begründete Desinfektionspolitik bruchlos ein. Aus dem Hygienediskurs resultierte schließlich das seit dem Ende des 19. Jahrhunderts von Naturwissenschaftlern vorgelegte rassenhygienische Ordnungsmodell - ein Phänomen der "heroischen Moderne" (Heinz D. Kittsteiner), in der traumatische Ängste vor unberechenbaren gesellschaftlichen Prozessen von dem Leitbild des Neuen Menschen überdeckt wurden. Eugeniker und Rassenhygieniker postulierten gegen einen drohenden ‚Rassentod‘ die medizinische ‚Reinigung‘ des ‚Volkskörpers‘ von erbbiologisch diagnostizierten ‚tödlichen Elementen‘ (z. B. Menschen mit Behinderung, Prostituierte, Vagabundierende). Nicht zuletzt lieferte das Desinfektionsparadigma auch das Passepartout für die nationalsozialistische ‚Rassen‘- und Vernichtungspolitik. Zygmunt Bauman hat den ‚Rassen‘- und Hygienediskurs als kulturelle Strategie zur säkularen Sterblichkeitsüberwindung analysiert und Todesdekonstruktionsversuche zu einem signifikanten Merkmal der Moderne erklärt. Rekurrierend auf Bauman stellt der Artikel bestimmte, seit 2020 zum Zuge gekommene Praktiken gegen den ‚Corona-Tod‘ in diesen Deutungszusammenhang.
ISSN:2617-1953
Contains:Enthalten in: Limina
Persistent identifiers:DOI: 10.25364/17.5:2022.1.2